Wagner Inside
Die Meistersinger von Nürnberg
Richard Wagner hatte sich einen mehrwöchigen Urlaub von seiner Stelle als Königlicher Hofkapellmeister in Dresden verschafft und wollte sich im böhmischen Marienbad bei einer Kur von seiner strapaziösen Arbeit und dem Tannhäuser-Fiasko erholen.
Durch das sich bei der Kur einstellende Gefühl von Freiheit …
… fühlte ich mich bald leicht und fröhlich gestimmt; zum ersten Male machte sich eine, meinem Charakter eigentümliche Heiterkeit, auch mit künstlerischer Bedeutung merklich bei mir geltend.
Da ihm der Stoff der Meistersinger um Hans Sachs von früher her schon bekannt war, versprach er sich davon eine heitere, leichte Oper, die schnell über alle Theater sich verbreiten würde. Die Stimmung ausnutzend, hatte er im Handumdrehen drei Akte zu diesem Thema skizziert.
Kaum war er fertig, setzte sich wieder eine sehnsüchtig, ernste Stimmung durch, die ihm das heitere Gebiet abschloss und ihn zur Schaffung des „Lohengrin“ drängte.
Später verstand er diesen Umbruch:
Die einzige, für unsere Öffentlichkeit verständliche und deshalb irgendwie wirksame Form des Heiteren ist, sobald in ihr ein wirklicher Gehalt sich kundgeben soll, nur die Ironie. Sie greift das Naturwidrige unserer öffentlichen Zustände bei der Form an, und ist hierin wirksam, weil die Form, als das sinnlich unmittelbar Wahrnehmbare, das Einleuchtendste und Jedem Verständlichste ist; während der Inhalt dieser Form eben das Unbegriffene ist, in welchem wir unbewußt befangen sind, und aus dem wir unwillkürlich immer wieder zur Äußerung in jener, von uns selbst verspotteten Form gedrängt werden. So ist die Ironie selbst die Form der Heiterkeit, in der sie ihrem wirklichen Inhalte und Wesen nach nie zum offenen Durchbruch, zur hellen, ihr selbst eigentümlichen Äußerung als wirkliche Lebenskraft kommen kann. Der Kern der Erscheinung unserer unnatürlichen Allgemeinheit und Öffentlichkeit, den die Ironie unberührt lassen muss, ist somit nicht für die Kraft der Heiterkeit in ihrer reinsten, eigentümlichsten Kundgebung angreifbar, sondern sie ist es nur für die Kraft, die sich als Widerstand gegen ein Lebenselement äußert, welches mit seinem Drucke eben die reine Kundgebung der Heiterkeit hemmt. So werden wir, wenn wir diesen Druck empfinden, aus der ursprünglichen Kraft der Heiterkeit, und um diese Kraft in ihrer Reinheit wiederzugewinnen, zu einer Widerstandsäußerung getrieben, die sich dem modernen Leben gegenüber nur als Sehnsucht, und endlich als Empörung, somit in tragischen Zügen, kundgeben kann.
So rückte der Entwurf vorerst in den Hintergrund. Die Protesthaltung der Ironie musste erst bereit werden, sich vom eigentlichen Leben verwandeln zu lassen.
Sechzehn Jahre später, 1861, war es dann soweit! Die Zeit war jetzt reif geworden. Die Sehnsucht nach innerer Reinheit, ausgedrückt im „Tannhäuser“, fand den Weg in reine Seelengebiete, ausgedrückt im „Lohengrin“, um schließlich in „Tristan und Isolde“ durch vollständige Entsagung an die Grenze zu einem neuen Lebensfeld zu gelangen. Es war vollständig Nacht geworden im „Alten“!
Aus Venedig wieder in der Schweiz angekommen, schreibt er an Fr. Wesendonck, die ihn in der Seele verstehen kann:
Eine neue Arbeit musste es sein, sonst – wär’s zu Ende! Leider werden meine Gesichtsfunktionen immer stumpfer: meinen Blick fesselt gar nichts, und alles Lokale, so wie Alles was dran haftet oder haften kann, und wären’s die größten Meisterbilder der Welt, zerstreut mich nicht, ist mir gleichgültig. Ich hab‘ das Auge nur noch, um Tag oder Nacht, hell oder düster, zu unterscheiden. Es ist wirklich ein Absterben gegen außen und nach außen: ich sehe nur noch innere Bilder, und die verlangen nur nach Klang.
und
Seien Sie mir willkommen in diesem ernsten Reiche (erst starb ihr 3-jähriger Sohn und dann ihre Mutter), das mich nun ganz aufgenommen hat, und aus dem ich einzig nur noch auf die Welt schauen kann. Sie kann mir nun hell erscheinen, denn ich blicke nun nicht mehr in die Nacht, sondern aus der Nacht!
Und an seine Frau Minna, von der er getrennt lebt, schreibt er:
Denn ich kann nichts mehr tun auf dieser Welt, als einige gute Gedanken, die ich immer noch im Kopf merke, ausarbeiten: sonst ist mir alles nichtig, elend, hoffnungslos. Ob da oder dort? Es ist ja alles gleich!
… Drum will ich auch eben nur noch ungeschoren bleiben: ich bin vollständig resigniert, und kann jetzt allem entsagen, wenn ich nur arbeiten kann.
Der Arbeit an seinen Werken liegt ein ganz anderer Bewusstseinszustand zu Grunde. Das tägliche Leben und seine schöpferische Tätigkeit schließen sich geradezu gegenseitig aus. Dieses grundsätzliche Erleben zieht sich durch sein gesamtes Leben hindurch.
Und auch wenn sich die Nacht jetzt geringfügig lichtet, ist ihre Präsenz nicht hinwegzulügen. An Peter Cornelius schreibt er:
Es steckt ein ungeheurer Ekel in mir. Wenn ich nicht bald zur Arbeit komme, hat’s ein Ende.
Und an Malwida von Meysenbug am 12. März 1862:
Was sonst mein Leben betrifft, so halte ich mir die Menschen so fern wie möglich; das sage Ihnen auch die Wahl meines Asyl’s. Vor allem hüte ich mich fortan, mit Theater und Oper in Berührung zu kommen: für dieses Volk zu schaffen kann ich nur Lust behalten, wenn ich’s nicht sehe.
Dieser fortwährende Schmerz Wagners mit der Welt an sich drückt sich auch in den Meistersingern aus. Es ist die Figur des Walther von Stoltzing. Selbst als Genie, als Meister, geboren, hat er irgendwann Alles gegen sich. Er repräsentiert den Kampf des Genies mit der Welt. Nicht gegen diese, sondern um Offenbarung von neuem pulsierenden Leben ringend! Diesem neuen Leben, dass in Richard Wagner um Luft zum Atmen ringt, steht aber auch noch ein Altes im Raum, dargestellt durch u. a. Hans Sachs.
In Sachs erkennen wir die Grundhaltung eines Menschen, welche nach und nach zur Auflösung aller Verunreinigungen des innereigenen himmlischen Kerns führen kann. Es ist dies das Prinzip der eigentlichen Menschheitsentwicklung, zurück zur wahren Evolution von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. Nicht Ausbreitung und Vervollkommnung des Bestehenden, sondern Erneuerung durch Selbstaufgabe und dadurch ermöglichend – Verwandlung. Das Alte kann dem Neuen zum Durchbruch verhelfen, oder ihm die Lebensmöglichkeit verbauen, das ist die eigentliche Freiheit des Menschen.
Sachs als Teilhaber der Meistersingerzunft bildet die Brücke für den neuen Impuls in Person von Walther v. Stoltzing. Beckmesser, der Gegenpol von Sachs, dagegen ist das beharrende Prinzip. Beide sind Ausdruck dieser in jeglicher Hinsicht dialektischen, zweipoligen Welt. Wenn über ein Teil dieses zwölffachen Kreises – der Meistersinger – die neue Kraft einfließen kann, kann sie Eva aus eben diesen Zwängen befreien und so zum wahren Leben erwecken. Dies in Kürze der Plan, der in die Meistersinger eingewebt ist.
In Richard Wagner lebt und drängt dieser Plan, dieser Ruf aus einer anderen Welt! Diese andere Welt will sich durch ein erneuertes Bewusstsein in ihm offenbaren und schließlich durch Dieses auch alte Strukturen in anderen empfänglichen Menschen verwandeln.
So ist diese ganze Meistersingergeschichte ein aus Seiner Tiefe herausprojiziertes Wort- und Tongemälde, fesselnd in seiner Art und unübertrefflich.
Inwieweit Wagner das göttliche Kernwesen in sich als neue Lebensmöglichkeit begriff, sei dahingestellt. Jeder ist ein Kind seiner Zeit und damit den jeweiligen Lebensumständen und -möglichkeiten unterworfen. Und nur durch ein hohes Maß an schmerzlicher Erfahrung kann ein Verlangen nach Erneuerung entstehen. Und diese Erfahrungsfülle drückt sich in Richard Wagner in überreichem Maße aus. Auf welche Art? Wer das Wechselspiel der Welt kennt, die einem vorne gibt und hinten wieder nimmt, wer diesem Hamsterrade überdrüssig ist, verlangt hinaus, denn höhere Werte machen sich dann geltend. Macht, Ehre, Ruhm und Geld, die das Verlangen des Menschen vereinnahmt haben, verlieren ihre Anziehungskraft, und werden ersetzt durch das Ringen um Seelenerneuerung in sich und dem Umfeld, in das man gestellt ist.
Gerade die Zeit der Meistersinger offenbart das in aller Klarheit.
Seine sich immer weiter zuspitzende Lage betreffend schreibt er am 9. Juni 1862 an Mathilde Wesendonck (sie hatte ihm ein eigenes Gedicht gesandt):
Bei mir geht Alles nur auf einen letzten, ernsten Abschluss hinaus. So kann ich auch auf die Blume, die auf diesem letzten Wege mir gestreut wird, nur noch mit Wehmut blicken.
Das Gedicht spricht von Hoffnung und diesbezüglich schreibt er weiter:
… ich für mein Teil verstehe keine Hoffnung mehr, und für nichts bin ich unzugänglicher geworden, als für ihren Zuspruch. Dagegen verstehe ich jetzt die Seligkeit, die wir wirklich nicht erst zu erhoffen haben, sondern deren wir Herr sind. Vielleicht entsinnen Sie sich, wie ich Ihnen schon früher einmal mitteilte, im Laufe meines Lebens immer lebhafter inne geworden zu sein, dass die Kunst mir erst dann ungeahnteste Seligkeit bereiten würde, wenn alles und jedes Gut des Lebens mir entrissen, Alles, Alles verloren, und jede Möglichkeit des Hoffens abgeschnitten wäre. … keine Hoffnung mehr das Herz zu umstricken im Stande sein würde.
So erhält mir denn die Messias-Sage endlich ihre volle Bedeutung. Sie erwarteten ihn, den Befreier und Erlöser, aus dem Samen David’s, ein König Israels: alles traf zu; ihm wurden Palmen gestreut; – nur die Wendung war überraschend, dass er ihnen sagte: „mein Reich ist nicht von dieser Welt!“ – So erstreben und ersehnen die Völker alle ihren Messias, der ihnen die Wünsche des Lebens erfüllen soll. Er kommt, und sagt ihnen: gebt das Wünschen selbst auf! – Das ist die letzte Lösung des großen Wunsch-Rätsels …
einer anderen Freundin, Malwida von Meysenbug teilt er wenig später mit:
Ganz bestimmt will und suche ich nichts mehr auf dieser Welt, als Muse zum Arbeiten, weil mir dies einzig mein Vorhandensein erklärlich und akzeptabel macht. Auf Aufführungen kann ich ganz und gar verzichten. Aber diese Muse sich zu sichern ist eben so abscheulich schwer. Ich arbeite im Stillen immer an einem Plan, für alle Menschen zu sterben, und irgendwo heimlich als abgeschiedener Geist nur noch meine künstlerischen Entwürfe auszuarbeiten. Ich komme sonst nicht zur Ruhe.
Kann man es deutlicher sagen und empfinden? Die „Nacht“ von „Tristan und Isolde“ hat ihn umfangen und die Quelle der Inspiration, seine Muse, leuchtet als „Johannes-Oper“ – wie die Meistersinger auch bezeichnet werden – hell auf. Johannes ist der Verkünder eines neuen Bewusstseins, eines Bewusstseins „nicht von dieser Welt“.
Und dass Richard Wagner dazu gereift war, hat er in letzter Konsequenz der schwer durchlittenen Tristan-Zeit zu verdanken. Den Seelenschmerz, den da Tristan und Marke noch im Außen trugen, hatte sich in Hans Sachs tief ins Innere zurückgezogen und zum großen Teil verwandelt. Sachs strahlt eine heitere Ergebenheit aus, von der auch Nietzsche beeindruckt war. Dieser schreibt:
Wer sich über die Nachbarschaft des Tristan und der Meistersinger befremdet fühlen kann, hat das Leben und Wesen aller wahrhaft großen Deutschen in einem wichtigen Punkte nicht verstanden: er weiß nicht, auf welchem Grunde allein jene eigentlich und einzig deutsche Heiterkeit Luthers, Beethovens und Wagners erwachsen kann, die von andern Völkern gar nicht verstanden werden wird und den jetzigen Deutschen selber abhanden gekommen zu sein scheint – jene goldhelle, durchgegorene Mischung von Einfalt, Tiefblick der Liebe, betrachtenden Sinn und Schalkhaftigkeit, wie sie Wagner als köstlichen Trank allen denen eingeschenkt hat, welche tief am Leben gelitten haben und sich ihm gleichsam mit dem Lächeln der Genesenden wieder zuwenden.
Der Schmerz in Wagner-Marke hatte eine Stärke erreicht, die nur noch zwei Möglichkeiten offen ließ: Untergang – also daran zu Grunde gehen oder Aufgang – Überwindung. Wie kam es zu dieser Lage?
In erster Linie war es natürlich sein Verhältnis als Genie zur Welt, wie oben schon angedeutet. Ein Zweites kam noch hinzu. Das Verhältnis zu seiner Frau Minna war ein rein oberflächliches, d. h., sie war nicht in der Lage, irgendein Verständnis für seine Seelenregungen zu empfinden. Sein Lebensinhalt erzeugte in ihr keine Resonanz. Das an sich ist im Kern schon ein erschütternder Zustand im Zusammenleben der beiden Eheleute.
Ende der fünfziger Jahre, nach seiner Flucht aus Deutschland in die Schweiz, bot ihm die begüterte Familie Wesendonck ein kleines Sommerhäuschen auf ihrem Grundstück in Zürich an, dass Wagner und seine Frau dankend als „Asyl“ annahmen. Er entwickelte eine tiefgehende Beziehung zu der Frau seines Gönners, mit Namen Mathilde. Diese war das ganze Gegenteil von Minna. An seine Schwester Kläre schreibt er am 20. August 1858 über diese Beziehung:
Was mich seit sechs Jahren erhalten, getröstet und namentlich auch gestärkt hat, an Minnas Seite, trotz der enormen Differenzen unseres Charakters und Wesens, auszuhalten, ist die Liebe jener jungen Frau, die mir anfangs und lange zagend, zweifelnd, zögernd und schüchtern, dann aber immer bestimmter und sicherer sich näherte. Da zwischen uns nie von einer Vereinigung die Rede sein konnte, gewann unsere tiefe Neigung den traurig wehmütigen Charakter, der alles Gemeine und Niedere fern hält und nur in dem Wohlergehen des Andren den Quell der Freude erkennt. Sie hat seit der Zeit unserer ersten Bekanntschaft die unermüdlichste und feinfühlendste Sorge für mich getragen, und alles, was mein Leben erleichtern konnte, auf die mutigste Weise ihrem Manne abgewonnen. … Und diese Liebe, die stets unausgesprochen zwischen uns blieb, musste sich endlich auch offen enthüllen, als ich vor’m Jahre den Tristan dichtete und ihr gab. Da zum ersten Male wurde sie machtlos und erklärte mir, nun sterben zu müssen!
Das Leben zwischen diesen beiden Frauen war natürlich für Wagner eine unerträgliche Konstellation. Er war durch die ganz speziellen Umstände geradezu eingespannt in eine Lebenssituation, aus der es keine Fluchtmöglichkeit für ihn gab. Er brauchte ein Wesen um sich, dem er sich vorbehaltlos mitteilen konnte und mit dem er eine tiefe Seelenübereinstimmung erleben konnte, mit dem er verschmelzen konnte. Und plötzlich bekam seine Sehnsucht danach Nahrung, ein Wesen tritt in sein Leben, die all das verkörpert, aber eine Erfüllung der Sehnsucht vollständig unmöglich ist.
Die innere Seelenreife ermöglichte es ihm nun aber, in diesem Spannungsfeld auszuhalten, also nicht zu fliehen oder zu verhärten. Der innere Schmerzensbrand verwandelte sich allmählich hin zu einer Ergebenheit, die in ihrer Tiefe kaum noch zu erschüttern war.
Dieser Läuterungsbrand war notwendig, um alles Eigenwillige, alles Begehren für sich selbst auszutilgen, um der inneren Führung um so klarer folgen zu können.
Hier musste etwas ausgeholt werden, um verstehen zu können, wie sich der innere Zustand von König Marke zu Hans Sachs hin entwickelte.
Ein Zeugnis für den inneren Verwandlungsprozess Wagners sei noch erwähnt: es ist ein Brief von Wagner an Mathilde W. kurz nach der „Katastrophe“ im „Asyl“. Minna hatte sich dem durch und durch zarten Verhältnis der Beiden in den Weg gestellt und Mathilde in einer Art angeklagt, die ein weiteres Verbleiben im „Asyl“ unmöglich machte:
Gewiss erwartest Du nicht, dass ich Deinen wunderschönen, herrlichen Brief unbeantwortet lasse? Oder sollte ich für das edelste Wort das schöne Recht der Erwiderung mir versagen müssen? Wie aber könnte ich Dir erwidern, als Deiner würdig? –
Die ungeheuren Kämpfe, die wir bestanden, wie können sie enden, als mit dem Siege über jedes Wünschen und Begehren?
Wussten wir nicht in den wärmsten Augenblicken der Annäherung, dass dies unser Ziel sei? –
Gewiss! Nur weil es so unerhört und schwierig, war es eben nur nach den härtesten Kämpfen zu erreichen. Haben wir nun aber nicht alle Kämpfe ausgekämpft? Oder welche könnten uns noch bevorstehen? – Wahrlich, ich fühle es tief: sie sind zu Ende! –
Als ich vor einem Monate Deinem Manne meinen Entschluss kund gab, den persönlichen Umgang mit Euch abzubrechen, hatte ich Dir – entsagt. Doch war ich hierin noch nicht ganz rein. Ich fühlte eben nur, dass nur eine vollständige Trennung, oder – eine vollständige Vereinigung unsre Liebe vor den schrecklichen Berührungen sichern konnte, denen wir sie in den letzten Zeiten ausgesetzt gesehen hatten. Somit stand dem Gefühle von der Notwendigkeit unserer Trennung die – wenn auch nicht gewollte – aber gedachte Möglichkeit einer Vereinigung gegenüber. Hierin lag noch eine krampfhafte Spannung, die wir Beide nicht ertragen konnten. Ich trat zu Dir, und klar und bestimmt stand es vor uns, dass jene andere Möglichkeit einen Frevel enthalte, der selbst nicht gedacht werden durfte.
Hierdurch erhielt aber die Notwendigkeit unserer Entsagung von selbst einen anderen Charakter: der Krampf wich einer mild versöhnenden Lösung. Der letzte Egoismus schwand aus meinem Herzen, und mein Entschluss, Euch wieder zu besuchen, war jetzt der Sieg der reinsten Menschlichkeit über die letzte Regung eigensüchtigen Sehnens. Ich wollte nur noch versöhnen, lindern, trösten – erheitern, und somit auch mir das einzige Glück zuführen, das mir noch bereitet sein kann. –
So tief und schrecklich, wie in den vergangenen letzten Monaten, habe ich nie zuvor in meinem Leben empfunden. Alle früheren Eindrücke waren inhaltlos gegen diese letzten. Erschütterungen, wie ich sie bei jener Katastrophe erlitt, mussten mir tiefe Spuren eingraben; und konnte etwas noch den großen Ernst meiner Stimmung steigern, so war es der Zustand meiner Frau. Während zwei Monaten sah ich jeden Tag der Möglichkeit der Nachricht von ihrem plötzlichen Tode entgegen; denn diese Möglichkeit hatte mir der Arzt andeuten müssen. Alles um mich atmete Todesduft; all mein Vorwärts- und Rückwärtsblicken traf auf Todesvorstellungen, und das Leben – als solches – verlor für mich seinen letzten Reiz. Zur äußersten Schonung gegen die Unglückliche angehalten, musste ich dennoch den Entschluss zur Zerstörung unseres soeben erst gegründeten letzten häuslichen Herdes fassen, und, zu ihrer größten Bestürzung, ihr diesen endlich mitteilen. –
Mit welchem Gefühle glaubst Du wohl, dass ich in dieser schönen Sommerzeit dieses reizende, so ganz und einzig meinen Wünschen und einstigen Bestrebungen entsprechende Asyl mir überblickte, wenn ich am Morgen das liebe Gärtchen durchwanderte, dem gedeihenden Blumenflor zusah und die Grasmücke belauschte, die sich im Rosenbäumchen ihr Nest gebaut hatte? Und was dieses Losreißen vom letzten Anker für mich hieß, das sage Dir selbst, die Du meinen Sinn so innig kennst, wie keines!
Floh ich schon einst vor der Welt, wähnst Du, ich könnte nun wieder in sie zurückkehren? Jetzt, wo Alles bis zum äußersten zart und empfindlich in mir geworden ist durch die immer längere Entwöhnung von aller Berührung mit ihr? Noch meine letzte Begegnung mit dem Großherzog von Weimar zeigte mir deutlicher als je, dass ich nur noch in der allerbestimmtesten Unabhängigkeit gedeihen kann, so dass ich jede Möglichkeit irgend einer einzugehenden Verpflichtung, selbst gegen diesen wirklich nicht unliebenswürdigen Fürsten, innerlichst von mir abweisen musste. Ich kann – kann der Welt mich nicht wieder zuwenden; in einer großen Stadt dauernd mich niederlassen, ist mir undenkbar; und – soll ich dagegen wieder an die Gründung eines neuen Asyles, eines neuen Herdes denken, nachdem ich diesen, kaum genossen, hinter mir zertrümmern musste, den Freundschaft und edelste Liebe in diesem reizenden Paradiese mir gründeten? O nein! – Von hier fortgehen, ist gleichbedeutend für mich mit – untergehen!
Ich kann nun, mit diesen Wunden im Herzen, mir keine Heimat wieder zu gründen versuchen! –
Mein Kind, ich kann mir nur noch ein Heil denken, und dies kann nur aus der innersten Tiefe des Herzens, nicht aber aus irgend einer äußeren Veranstaltung kommen. Es heißt: Ruhe! Ruhe der Sehnsucht! Stillung jedem Begehren! Edle, würdige Überwindung! Leben für Andre, für Andre – zum Troste für uns selbst! –
Du kennst jetzt die ganze ernste, entscheidende Stimmung meiner Seele; sie bezieht sich auf meine ganze Lebens-Anschauung, auf alle Zukunft, auf Alles was mir nahe steht, – und so auch auf Dich, die Du mir das Teuerste bist! Lass mich nun noch auf den Trümmern dieser Welt des Sehnens – Dich beglücken! –
Sieh‘, nie in meinem Leben, in irgend einem Verhältnisse war ich je aufdringlich, sondern stets von fast übertriebener Empfindlichkeit. Nun will ich denn Dir zum erstenmale aufdringlich erscheinen und bitte Dich, über mich recht innerlich ruhig zu sein. Ich werde Euch nicht oft besuchen, denn Ihr sollt mich fortan nur noch sehen, wenn ich sicher bin, Euch ein heit’res ruhiges Gesicht zu zeigen. – Sonst suchte ich wohl im Leiden und Sehnen Dein Haus auf: dorthin, von wo ich mir Trost holen wollte, brachte ich Unruhe und Leiden. Das soll nicht mehr sein. Siehst Du mich daher längere Zeit nicht mehr, so – bete für mich im Stillen! – Denn dann, wisse, dass ich leide! Komme ich aber dann, so sei sicher, dass ich Euch eine holde Gabe meines Wesens ins Haus bringe, eine Gabe, wie es vielleicht nur mir verliehen ist zu spenden, mir, der so viel und willig litt. –
Wahrscheinlich, ja – gewiss, tritt nun auch nächstens, ich vermute schon Anfang Winters, die Zeit ein, wo ich für länger mich ganz von Zürich entferne; meine nun bald erwartete Amnestie wird mir Deutschland wieder erschließen, wohin ich periodisch zurückkehre, um das Einzige mir zu ersetzen, was ich hier mir nicht bereiten konnte. Dann werde ich Euch oft lange nicht mehr sehen. Aber dann wieder in das nun mir so traut gewordene Asyl zurückkehren, um mich auszuruhen von Plage und unvermeidlichem Ärger, reine Luft zu atmen, und neue Lust zum alten Werke zu fassen, für das mich nun einmal die Natur auserwählt hat, – dies wird dann immer, wenn Ihr es mir vergönnt, der sanfte Lichtblick sein, der dort mich aufrecht erhält, der süße Trost, der hier mir winkt.
Und – hättest Du dann mir keine höchste Lebens-Wohltat erwiesen? Ich dankte Dir nicht das Einzige, das auf dieser Erde mir noch dankenswert erscheinen kann? Und ich sollte nicht zu lohnen suchen, was Du mit so unsäglichen Opfern und Leiden mir errungen? –
Mein Kind, die letzten Monate haben mir an den Schläfen das Haar merklich gebleicht; es ist eine Stimme in mir, die mit Sehnsucht mir nach Ruhe ruft, – nach der Ruhe, die ich vor langen Jahren schon meinen fliegenden Holländer sich ersehnen ließ. Es war die Sehnsucht nach – „der Heimat“ – , nicht nach üppigem Liebesgenuss! Ein treues, herrliches Weib nur konnte ihm diese Heimat erringen. Lass‘ uns diesem schönen Tode weihen, der all‘ unser Sehnen und Begehren birgt und stillt! Lass uns selig dahinsterben, mit ruhig verklärtem Blick und dem heiligen Lächeln schöner Überwindung! Und – keiner soll dann verlieren, wenn wir – – siegen!
Leb‘ wohl, mein lieber heiliger Engel!
Richard Wagner hatte sich damit in einen inneren Wesenszustand hineingeopfert, der es ihm ermöglichte, seine Seele – Isolde/Eva –, die nun von allem irdischen Verlangen freigegeben war, einer Begegnung und Verwandlung im „Feld, das alle Welt umspannt“, zuzuführen.